PAULAS ZWERGE – Teil 2
„Zwerge gibt es doch nur in Märchen und Sagen“, hörte sich Paula erwidern, als ob sie versuchen würde, einem ihrer Kinder ein Hirngespinst auszutreiben. „Und wenn es sie mal gab, dann sind sie längst ausgestorben.“ Sie und der Zwerg sahen sich ungläubig an.
„Es hat nie wirklich solche Zwerge gegeben“, ergriff dieser wieder das Wort, „das waren nur Erfindungen in den Geschichten. Echte Zwerge existieren erst seit einigen Jahren oder auch schon Jahrzehnten (?) und die sind ebenfalls eine Erfindung.“
Paula schaute nun noch ungläubiger als vorher. Der Zwerg zögerte ein bisschen, bevor er zu einer näheren Erläuterung ansetzte: „Zwerge sind eine Entwicklung der Menschen, um ihnen das Leben zu erleichtern.“
„Bist du eine Art Roboter?“, unterbrach ihn Paula und musterte ihn, um eventuelle Metallteile, Schrauben oder Schalter unter dem blauen Overall zu entdecken.
„Aber nein“, entgegnete der Zwerg und fuhr in einem belehrenden Tonfall fort: „Wir sind genetisch erzeugte und mit Individualprozessoren ausgestattete Lebewesen, sogenannte Cyborgzwerge. Wir übernehmen Aufgaben, die für Maschinen zu aufwendig sind und für Menschen nicht zumutbar wären. Wir sind vielfältig einsetzbar in Lagerhallen, Büros und Kleinbetrieben zur Ordnung und Archivierung, Wartung und Massenproduktion, sowie in technisch anspruchsvollen Privathaushalten zum Betrieb computer-generierter Geräte.“
„Soll das heißen, in meinem Kühlschrank sitzt irgendwo ein Zwerg?“
„Ist es ein computergesteuerter Kühlschrank?“
„Ja, schon. Er bestellt von sich aus Lebensmittel, also per Internet.“
„Sehen Sie“, sagte der Zwerg mit einer gewissen Genugtuung. „Das macht nicht der Kühlschrank, sondern der Cyborgzwerg.“
Paula warf einen verdutzten Blick in Richtung Küche. Irgendwie fand sie den Gedanken unheimlich. Das erste, was ihr jedoch spontan auf diese revolutionäre Erkenntnis hin einfiel war: „Jetzt weiß ich auch, warum der Pudding immer so schnell alle ist!“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, dementierte der Zwerg aber sogleich die latente Unterstellung. „Wir sind so konzipiert, dass wir uns hauptsächlich von Elektrosmog ernähren, wovon es heutzutage wirklich mehr als genug gibt. Dieses ganze menschliche Zeug können wir gar nicht verdauen. Das Einzige, was wir aus irgendeinem Grunde recht gut vertragen, ist Kaffee.“ Bei diesem Satz legte sich ein sehnsüchtiges Grinsen auf sein Gesicht. „Sie haben nicht zufällig eine Tasse da?“
„Ich könnte einen aufsetzen, in der Küche“, sagte Paula und dachte dabei: ‚Ich bin schon eine zuvorkommende Person, dass ich diesem seltsamen koffeingierigen Wesen, das genauso gut in meiner Dusche, meinem Staubsauger oder meinem Wecker sitzen könnte, einen Kaffee anbiete. Mensch was bin ich doch tolerant!’
Sie hob den Zwerg von der Kommode, nicht ohne vorher zu schauen, ob nicht Bill sich gerade in der Nähe aufhielt, und setzte ihn auf den Boden. Das Männlein trippelte hinter ihr her in die Küche, wo es sich sogleich interessiert umsah.
„Ah ja, aha, ich seh’ schon“, fing es an, „ein Freeze Z 3000, der gute Ceran elegance und die Ecowave 500, alle zwerggesteuert.“
Die Kaffeedose in der Hand, musterte Paula skeptisch den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle, auf die sich der Zwerg offensichtlich bezogen hatte. Ihr Blick fiel auf die Kaffeemaschine.
„Ist da auch ein Zwerg drin?“, murmelte sie irritiert.
„Ist die mit automatischer Dosiervorrichtung und Wasserreservoir?“
Paula überlegte. Mit diesen genauen technischen Bezeichnungen hatte sie sich nie auseinandergesetzt. Hauptsache, das Ding funktionierte und jemand erklärte ihr, wie man es bedienen musste.
„Ich glaube nicht“, erwiderte sie unschlüssig.
„Dann ist wahrscheinlich auch kein Zwerg integriert.“
Der Zwerg hatte sich inzwischen auf einen Küchenstuhl gehievt. Etwas beruhigter fuhr Paula mit der Kaffeezubereitung fort. Sie schaltete das Gerät ein und setzte sich an den Küchentisch gegenüber, während er versuchte, sich von der Sitzfläche aus an der Tischkante hochzuziehen. Mit einigem Kraftaufwand schaffte er es, lief auf der Tischplatte umher und platzierte sich schließlich nahe der Obstschale in freudiger Erwartung auf den baldigen Kaffeegenuss.
„Wie soll so ein Zwerg auch in eine Kaffeemaschine passen?“, fiel Paula noch einen weiterer Punkt ein.
Wieder war der Zwerg bestens im Bilde.
„Es gibt uns natürlich in verschiedenen Größen. Eine Kaffeemaschine braucht ja keinen hochentwickelten Zwerg, da reicht schon ein Pentiummännchen, wie wir diese Typen scherzhaft bezeichnen.“
Paula überlegte.
„Tja, das ist ja alles gut und schön, aber ganz ausgereift, scheint ihr Zwerge ja nicht zu sein“, brachte sie nach einer Weile vor. „Wenn ich bedenke, dass mir heute einige von euch ihren Dienst versagt haben.“
Der Zwerg runzelte die Stirn und nickte.
„Hmm, das kann ich mir vorstellen. Aber lassen sie sich versichert sein, dass dies mit keiner Fahrlässigkeit von Seiten der Zwerge zu tun hat, denn unter normalen Einflüssen kennt ein Zwerg weder Müdigkeit noch Überdruss. Wir verrichten bereitwillig unsere Arbeit, ohne diese jemals zu vernachlässigen oder gar zu verlassen.“
Fragend und mitleidig zugleich blickte Paula ihn an. Wie konnte man nur mit einem Leben zufrieden sein, in dem man eingeschlossen in dunklen Kammern oder gar engen Elektrogeräten pausenlos damit beschäftigt war auf Abruf, ständig gleiche Handgriffe auszuführen? Waren die Zwerge überhaupt zufrieden oder kannten sie einfach nichts anderes? Und wenn sie doch so zuverlässig waren und nie ihre Arbeit verließen, was machte dieser Zwerg dann hier auf ihrem Küchentisch?
Als hätte dieser ihren Gedanken erfasst, sprach er schließlich: „Doch irgendwas ist heute schiefgegangen. Eigentlich sollte ich heute einen neuen Arbeitsplatz im Zentralrechner einer Softwarefirma antreten und stattdessen bin ich hier gelandet!“ Kaum hatte er dies ausgesprochen, war plötzlich eine Unruhe zu spüren, und zwar in Form eines Summens, Rauschens, Piepens und Flüsterns, das offenkundig von draußen kam.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen stand Paula auf und ging zum Küchenfenster, das zum Garten ausgerichtet war. Draußen, in ihrem Garten rund um die unglücklich im Rosenbeet liegende Satellitenschüssel waren Zwerge versammelt, dutzende, wenn nicht hunderte in verschiedenen Größen, so wie der Zwerg es beschrieben hatte: von stuhlbeinhoch über bleistiftgroß bis zu ganz Kleinen, die gerade mal der Größe einer Batterie entsprachen. Dieser Haufen tummelte sich nun ungeregelt durcheinander, bildete einzelne Klumpen, Stapel und Reihen, die sich wieder auflösten und neu formierten und außerdem ständig zu wachsen schienen.
„Kommen die aus dem Nichts, oder was?“, rief Paula entsetzt, an das Chaos denkend, welches diese Kreaturen wohl in ihrem Garten zurücklassen würden.
„Nein“, meinte der Zwerg, der ebenfalls etwas unruhig wurde, „die wurden wahrscheinlich gefaxt.“
„Gefaxt?“ Paula blickte konsterniert aus dem Fenster. Die Zwerge schienen in der Tat alle aus derselben Richtung zu kommen, und zwar aus der Richtung des Rosenbeets. Dies hatte wohl auch der Zwerg auf ihrem Küchentisch bemerkt, so dass er gleich erklärend fortfuhr: „Nun, so werden Zwerge halt verschickt. Sie können sich vorstellen, dass das nicht in Containern oder per LKW funktioniert. Dass es uns gibt, soll ja auch eigentlich kein Normalverbraucher wissen, das würde den Verkauf, zwergenbetriebener Geräte nicht gerade fördern. Also wird gefaxt, per Satellit wird der Zwerg übertragen, auf einer besonderen Frequenz versteht sich, sonst könnte ja jeder Zwerge empfangen…“
Das Piepen der Kaffeemaschine unterbrach den Zwerg in seinen Ausführungen über das Zwergenfaxen. Paula hatte den Kaffee schon ganz vergessen. Ihre kaputte Satellitenschüssel war also auf Zwergenfrequenz geschaltet. Das irritierte ihre Haushaltszwerge und zog sämtliche Zwergensendungen aus der Umgebung in ihren Garten!
Geistesabwesend griff sie die Kanne aus der Maschine und holte eine Tasse aus dem Schrank. Nach kurzer Überlegung stellte sie diese wieder zurück, da sie für den Zwerg ja viel zu groß war. Letztendlich kramte sie eine Espressotasse aus einer Ecke und füllte sie mit Kaffee. Der Zwerg nahm sie freudestrahlend entgegen und sogleich einen ordentlichen Schluck.
In der Zwischenzeit hatte Paula einen Geistesblitz. Sie eilte ins Wohnzimmer und zog den Stecker des Receivers aus der Steckdose. Sofort lief sie zum Fenster, in der Erwartung, dass jene wohl geplante Maßnahme zu einem jähen Ende des Spuks geführt haben könnte und die Zwerge nun verschwunden wären.
Doch die Zwerge waren noch da. Die wuselige Schar bevölkerte ihren Garten mittlerweile in Form eines Knäuels, das sich vom Rosenbeet über den Rasen bis zur Buchsbaumhecke ausbreitete, aber immerhin schienen es nicht mehr zu werden.
Fortsetzung folgt…
C. Holister (c) 2005